Mit zwei Urteilen (Az.: B 3 KR 25/15 R und B 3 KR 26/15 R) hat das Bundessozialgericht (BSG) am 23.06.2016 zwei Schiedssprüche zur Vergütung für häusliche Krankenpflege in Hessen gekippt. Tarifsteigerungen hätten von den Krankenkassen grundsätzlich nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden dürfen. Es fehle jedoch an Nachweisen, dass Tariflöhne tatsächlich gezahlt werden und dass eventuelle Wirtschaftlichreserven ausgeschöpft seien.
Darum heißt es nun für Krankenkassen und Verbände der Pflegedienste in Hessen: Zurück an den Verhandlungstisch und alle Unterlagen vorlegen!
Eine Zusammenfassung von Carmen P. Baake.
Vergütungserhöhung bei häuslicher Krankenpflege grundsätzlich an Grundlohnsummen-Veränderungsrate gebunden
Bei Vergütungsvereinbarungen nach § 132a Abs. 2 SGB V für häusliche Krankenpflege sind sowohl die Krankenkassen als auch die Pflegedienste bzw. deren Verbände dazu verpflichtet, Erhöhungen nur bis zur Höhe der Grundlohnsummen-Veränderungsrate vorzunehmen. Die Grundlohnsummen-Veränderungsrate wird jeweils im September des Vorjahres vom Bundesgesundheitsministerium ermittelt und bekannt gegeben. Sie bildet die Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen ab, aus denen die Krankenkassen Beiträge erhalten. Durch die grundsätzliche Bindung an die Grundlohnsummen-Veränderungsrate soll gewährleistet werden, dass Vergütungserhöhungen für Leistungen der Krankenkassen und somit Ausgabenanstiege nur in einem Umfang vereinbart werden, der durch die Erhöhung der beitragspflichtigen Einnahmen ausgeglichen wird (Grundsatz der Beitragssatzstabilität).
Abweichungen von der Grundlohnsummen-Veränderungsrate nur in begründeten Ausnahmen
Nach § 71 Abs. 1 Halbsatz 2 SGB V kann von der Grundlohnsummen-Veränderungsrate abgewichen werden, wenn andernfalls die Versorgung – auch nach Ausschöpfen eventueller Wirtschaftlichkeitsreserven – nicht gesichert ist.
Das Vorliegen einer solchen Ausnahme muss anhand von entsprechenden Unterlagen nachgewiesen werden. Der pauschale Verweis auf Tarifsteigerungen und allgemeine Kostenentwicklungen reiche nicht aus, so das BSG in den o. g. Urteilen. Sofern ein Verband mehrere Pflegedienste vertritt, ist dieser Nachweis zwar nicht für jeden vertretenen Pflegedienst erforderlich. Dennoch müsse anhand der Betriebs- und Kostenstruktur einer repräsentativen Anzahl der vertretenen Pflegedienste die angestrebte Vergütungserhöhung begründet dargelegt werden. Die Verbände der Pflegedienste seien verpflichtet, diese Unterlagen vorzulegen, im Falle eines Schiedsspruches der Schiedsperson.
Das BSG stellte in beiden Urteilen übereinstimmend fest, dass diese Anforderung nicht erfüllt wurde. Es entschied darum in den strittigen Fällen wie folgt:
Fall 1: Schiedsperson setzt für 2009 eine Vergütungserhöhung um 3,9 % fest
(B 3 KR 25/15 R)
Für das Jahr 2009 hatte das BMG eine Grundlohnsummen-Veränderungsrate in Höhe von 1,41 % bekannt gegeben. Davon abweichend hatte die Schiedsperson für die von der Liga der Freien Wohlfahrtspflege vertretenen hessischen Sozialstationen eine Vergütungserhöhung um 3,9 % festgesetzt. Begründet hatte sie diese Festsetzung mit den Tariflohnsteigerungen. Dagegen hatten die Krankenkassen geklagt.
Nach Ansicht des BSG werden Tarifsteigerungen grundsätzlich im Rahmen der Grundlohnsummen-Veränderungsrate berücksichtigt. Darum muss eine Betriebs- und Kostenstruktur vorhanden sein, die eine Erhöhung der Vergütungen weit über die Grundlohnsummensteigerung hinaus erforderlich macht. Dazu seien keine Unterlagen vorgelegt worden, die das für repräsentativ ausgewählte Einrichtungen belegen. Die Festsetzung der Schiedsperson sei darum gesetzeswidrig und unwirksam.
Fall 2: Schiedsperson setzt für 2010 eine Vergütungserhöhung um 1,54 % fest
(B 3 KR 26/15 R)
Für das Jahr 2010 hatte das BMG eine Grundlohnsummen-Veränderungsrate in Höhe von 1,54 % bekannt gegeben. Die Schiedsperson hatte für hessische Pflegedienste in privater Trägerschaft eine Vergütungserhöhung in gleicher Höhe festgesetzt. Dagegen hatten die Verbände der privaten Pflegedienste geklagt.
Nach der Überzeugung des BSG reicht der von den Klägern vorgebrachte allgemeine Hinweis auf Tariflohn- oder andere Kostensteigerungen nicht aus, um eine über die Grundlohnsummen-Veränderungsrate hinausgehende Vergütungserhöhung zu begründen. Vielmehr müsse für eine repräsentative Anzahl von Pflegediensten eine Betriebs- und Kostenstruktur dargelegt werden und tatsächlich vorhanden sein, die eine solche Erhöhung rechtfertigt. „Die Vertragspartner haben der Schiedsperson entsprechende Informationen zur Verfügung zu stellen. Sofern Angaben oder Unterlagen fehlen, die wesentliche Grundlage des Schiedsspruchs sind, muss die Schiedsperson die Beteiligten darauf hinweisen.“
„Die Kläger können daher nicht verlangen, allein im Hinblick auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG oder aus dem Wettbewerbsrecht dieselbe Vergütung zu erhalten wie die in der LIGA zusammengeschlossenen frei-gemeinnützigen Verbände. Nicht ausgeschlossen ist, dass in Neuverhandlungen eine repräsentative Anzahl von Einrichtungen mit unterschiedlicher Größe und in unterschiedlichen Regionen mit einer Vergütungsstruktur belegt wird, die derjenigen der LIGA entspricht oder dass zumindest Vergütungen gezahlt werden, die den tariflichen Regelungen entsprechen.“
BSG sieht sich in beiden Fällen nicht zur Ersetzung des Schiedsspruchs in der Lage
In beiden Fällen lehnte es das BSG ab, die Feststellung der Schiedsperson durch eine gerichtlich bestimmte Vergütungserhöhung zu ersetzen. Das sei zwar grundsätzlich möglich, setze aber voraus, dass das BSG die Festsetzung der Vergütung unter Beachtung gesetzlicher Vorgaben tatsächlich ersetzen kann. Die Grundlagen dafür lägen in beiden Fällen nicht vor. Die Klärung sei vielmehr Sache der Vertragspartner und nicht der Gerichte. Gerichte könnten auf der Grundlage der §§ 317, 319 BGB nur dann eingreifen,“… wenn die Tatsachen, die insbesondere für die Anwendung des § 71 Abs. 1 SGB V erforderlich sind, von den Beteiligten so weit wie möglich (oder gewollt) aufgeklärt worden sind. Das gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass das Gesetz in § 132a i.V. m. § 71 SGB V Maßstäbe vorgibt, an welche die Vertragspartner, die Schiedsperson und die Gerichte gebunden sind.“
Für Kläger und Beklagte heißt das konkret, zurück an den Verhandlungstisch!
Carmen P. Baake ist Diplomökonomin und berät seit 2011 Pflegedienste und Sozialstationen zu betriebswirtschaftlichen und strategischen Themen. Zuvor war sie viele Jahre bei gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen beschäftigt. Daneben arbeitet sie als freiberufliche Dozentin und Fachautorin. Über den WALHALLA Fachverlag bietet sie derzeit Seminare zum Thema „Pflegestärkungsgesetz II“ und „Neues Begutachtungsassessment“ an.